Leesfragment: Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes

27 november 2015 , door Clemens J. Setz
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Het thema van de twaalfde Literarischer Sommer, een lezingenreeks die van 11 juli tot 31 augustus in verschillende Duitse, Belgische en Nederlandse steden plaatsvindt, is dit jaar 'Grenzgänger'. Clemens J. Setz (Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes) zal in Vaals de eerste avond verzorgen. Deze Nacht kunt u een fragment lezen uit zijn roman Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes.

Een uitgebreider fragment is te vinden is te vinden op de website van Suhrkamp Verlag, volg daarvoor de link en klik op 'Leseprobe'.

Onder grensgangers worden die mensen verstaan die pendelen tussen het land waarin ze wonen en het land waarin ze werken. Zo zijn ook de auteurs die er optreden in letterlijke zin grensgangers, want zij komen uit alle landen van de Benelux, uit Zwitserland, Oostenrijk en natuurlijk Duitsland. Nederlandse schrijvers die meewerken zijn Marente de Moor, Gerbrand Bakker en Tommy Wieringa, naast auteurs als Thomas Hettche, Silke Scheuermann en Jürg Amann (alle titels van de optredende auteurs staan hieronder).

Clemens J. Setz gewinnt mit dem Erzählband den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse. Anlässlich des Preises der Leipziger Buchmesse lobt die Jury: »Täuschende Nachbarn, Prügelorgien der Kunst, verrückende Maschinen – diese Erzählungen locken den Leser in ein Labyrinth aus Zärtlichkeit, Gewalt, Liebe und Gemeinheit.«

Eines Tages ist es da. Steht am Ende einer Sackgasse mitten in der Stadt. Es ist ein großes Kind. Den Blick hält es demütig zu Boden gesenkt, seine Haut ist rissig. Tagsüber versammeln sich die Bewohner der Stadt um dieses Kind, veranstalten Kundgebungen und Konzerte. Nachts schlagen sie auf es ein, mit Fäusten, Stöcken und Ketten – auf die Skulptur aus weichem, niemals trocknendem Lehm, auf das Mahlstädter Kind. Der Künstler hat es ihnen zur Vollendung überlassen, hat ihnen die Aufgabe übertragen, es »in die allgemein als vollkommen empfundene Form eines Kindes zu bringen«. Zuerst treibt die Kunstbegeisterung die Bewohner der Stadt, dann kommen sie als Pilger ihrer Wut, verlieren prügelnd die Kontrolle über sich und beinahe auch ihren Verstand.

Nach den beiden von der Kritik bejubelten und mit Preisen ausgezeichneten Romanen Söhne und Planeten und Die Frequenzen legt der österreichische Autor Clemens J. Setz nun einen Band mit Erzählungen vor. Es sind Geschichten gespickt mit grotesken Ideen und subtilem Horror, voller gewalttätiger Momente und zärtlicher Gesten. Wie in den Romanen präsentiert sich Setz auch in der kurzen Form als scharfer Beobachter der menschlichen Natur und einfühlsamer, geradezu liebevoller Porträtist ihrer Eigenarten.


Seth leest voor uit de bundel

Milchglas

Il ragazzo non osa guardarsi nel buio,
ma sa bene che deve affogarsi nel sole
e abituarsi agli sguardi del cielo, per crescere un uomo.
Cesare Pavese

Es gab sie wie Sand am Meer, sie waren überall und allgegenwärtig, die Grauzonen von Traurigkeit, Wahnsinn und Einsamkeit in Gegenständen, Gebäuden und Situationen: offen stehende Garagen mit einem unveränderlichen Ölfleck auf dem Boden, überquellende Mülltonnen, dreibeinige Hunde oder – sehr schlimm – Haltestellen, als wäre man angekettet unter freiem Himmel; dann einzelne Dinge, verbogenes Besteck, braun beränderte Fäustlinge, Körner aus Winterstreugut, die in den flüssigen Schuhabdrücken auf dem Küchenfußboden schwimmen, ausgebrannte Telefonzellen, Büsche, die nach Urin riechen und trotzdem von Hunderten Spatzen bewohnt sind, die verblassenden Farben der eigenen Sommerkleidung im Untergangslicht eines Treppenhauses, in dessen schummrigen Halbstöcken kleine taufbeckenartige Vorrichtungen stehen, ohne einen Hinweis auf Sinn und Zweck; die ganze entsetzliche Melancholie und Verlorenheit eines Bahnsteigs, der Pendelblick nach links: Schienen, endlos, dann nach rechts: dasselbe, und der vergebliche Versuch, sich festzukrallen in den Rockfalten der Mutter angesichts dieser ausweglosen Unendlichkeit, die einem am nächs ten Tag auf harmlosere Weise wieder begegnet, in der Schule, als Zahlenstrahl.
Und die abendlichen Planeten Mars und Venus, mit ihren fühlerartigen Ausläufern, wenn man sie anzwinkert: kleine Bernsteininsekten über den Dächern der Stadt.
Ich schlief fast keine Nacht mehr durch, seit Bernd, mein Bruder, ausgezogen war. Früher hatte mich immer sein Schnarchen beruhigt, sein Gemurmel im Schlaf, seine Bewegungen, die träge und einförmig waren wie die eines aufgehenden Backteigs.
Jede Nacht hatte ich Albträume: lange, unfreundliche Korridore, in denen man mit verschiedenen Graden der Unbeweglichkeit kämpfen musste; verschlossene Türen mit fremdsprachigen Aufschriften; meine Mutter, die mich nicht mehr wiedererkennt und meinen Bruder bittet, mir zu zeigen, wo der Ausgang ist; Verfolgungsjagden durch unseren Keller, in dem Atommüll lagert; ein sterbendes Tier, das sich in einen der schwarzen Regenschirme geflüchtet hat und daraus nicht mehr zu vertreiben ist; rötliches Eis, das beim Schlittschuhlaufen bricht; Clownsschminke, die man nicht mehr ab bekommt. Und in beinahe jedem Traum begegnete ich einer blauen Flamme wieder, die plötzlich irgendwo hochzüngelte, aus meiner Armbanduhr, aus einem Stück Brot, aus einem Brückengeländer, das sich in diesem Moment auflöste und mich in den Fluss stürzen ließ, aus Geldbörsen, Eistüten, Legosteinen, fremden Augen. Ich hasste die blaue Flamme, ihre Farbe war das Entsetzlichste an ihr, dieser Ton von Blau, den ich tagsüber nirgends erblicken konnte. Er ließ sich auch nicht mit Buntstiften auf Papier malen, die verfügbaren Schat11 tierungen aus der Pelikan-Zeichenbox reichten dafür nicht aus. Ich versuchte, der Flamme einen Namen zu geben, damit sie mich endlich nicht mehr heimsuchte, aber es half nichts.
Zu den Albträumen kamen noch meine Schwierigkeiten einzuschlafen. Meine Glieder wollten sich einfach nicht beruhigen. Die Finger blieben hellwach bis spät in die Nacht und bewegten sich, zwei nervöse Spinnen, über die Bettdecke. Außerdem hörte ich die ganze Nacht lang meine Eltern durch die Wohnung gehen, Möbel verrücken, flüstern, sprechen. Ich war schon oft zu ihnen hinausgegangen, wenn sie mich mit ihren Geräuschen qualvoll lange wach gehalten hatten, aber sie saßen immer nur in der Küche oder im Wohnzimmer, betreten, verwirrt, überrascht, mich so spät noch zu sehen – und rieten mir, mich wieder ins Bett zu legen.
Ihr Verhalten war mir unerklärlich. Was hatten sie immer zu bereden? In den Gesprächen beim gemeinsamen Abendessen ließen sie sich nichts anmerken. Merkwürdig war, dass sie immer erst gegen Mitternacht miteinander zu flüstern und zu sprechen begannen, wenn ich noch mit der Angst kämpfte, diesmal die ganze Nacht wach zu bleiben.
Wenn wirklich gar nichts mehr half, holte ich die blaue Kiste unter meinem Bett hervor.

*

Kinder im Park sind wie Verstoßene, sie laufen überallhin, als wären sie auf der Suche nach einem Unterschlupf für die Nacht. Wer zu lange an einem Ort blieb, wurde von Bettlern belästigt, die mit einem Speichelfa12 den am Kinn kämpften oder eine Hand in ihrer Hose bewegten, als wollten sie ein schlagendes Herz nachahmen. Man hatte dann zwei Möglichkeiten: um Hilfe rufen oder kämpfen. In unseren Gedanken entschieden wir uns meist für den Kampf, damit niemand merkte, dass sich in unsere Stimmen bereits Tränen mischten.
Wir glaubten an nichts. Wir sprachen unentwegt von Banden, vom Davonlaufen, von Heckenschützen und Überfällen, vom Erlernen einer schwierigen Kampfkunst und sogar davon, ein Mädchen zu verführen. Das alles hing, soweit man sehen konnte, irgendwie zusammen.
Es war der seltsamste Zustand, die rätselhafteste Einrichtung überhaupt: eine Welt, in der es Mädchen gab, Mädchen, von denen wir im Turnunterricht getrennt waren, die höhere Stimmen hatten und sich miteinander in einem jahrhundertealten Geheimcode verständigten, der versiegelt und streng bewacht war. Jeder Versuch, den Code gewaltsam zu knacken, führte zur Katastrophe – Tränen, Gebrüll, Lehrer und Eltern, die auf den Unterschied zwischen den Geschlechtern hinwiesen und uns am Handgelenk in irgendeine Richtung zerrten.
Aus rätselhaften Gründen machte uns gerade die körperliche Unterlegenheit der Mädchen, auf die man uns ständig hinwies, ihre schwächeren Arme und Beine, erst richtig wütend, sie schien wie eine Verspottung unserer eigenen Körper. Wir hätten viel darum gegeben, das heißt bezahlt, wenn wir nur für fünf Minuten allein mit einem Mädchen gewesen wären, allein in einem abgesperrten Raum. Allein und ohne Konsequenzen.
Es gab keine Möglichkeit, uns zu beruhigen.
Während mancher Schulstunden dachte ich daran, wie wunderbar es sein müsste, ein Mädchen, am bes13 ten eines aus der vorderen Reihe, eines jener Mädchen mit Brille und langem Pferdeschwanz, in eine Statue zu verwandeln – nicht in eine aus Stein, sie sollte lediglich bewegungsunfähig sein, die Augen von mir aus geschlossen und ohne Kleider. Was man alles mit einem solchen Mädchen anstellen könnte, alles, einfach alles – mir fiel vor Aufregung darüber gar nichts Originelles ein, das ich auch meinen Freunden erzählen konnte. Sie alle hungerten, wie ich, nach solchen Erzählungen, nach den quälenden Visionen, die einer von uns etwa eines Nachts gehabt hatte und am nächsten Tag vorm Schulgebäude schilderte – diese entsetzlichen Fantasien aus erfüllten Wünschen und gestohlenen Schätzen. Mein Herz wurde jedes Mal zu einem Buch mit aufflatternden Seiten, wenn einer von uns etwas Neues erzählte, eine Episode, einen Einfall, eine Spiel- oder Folteranleitung – und natürlich musste dann jeder den anderen übertrumpfen, und so verfielen wir in dunkel sprießende Improvisationen, die uns noch tagelang verfolgten, wenn wir sie richtig hinbekamen.
– Die Laura … mit ihrem langen Pferdeschwanz (wie diese letzte Silbe schmatzte!) … wenn die sich hinknien würde … wie ein Hund … und dann nimmt man einfach die Haare und zieht sie zwischen ihre Arschbacken … dass sie sich den Arsch mit ihrem Zopf abwischt …
– Oder du knotest die Haare dann so, schau, so …
– Und dann steckst du sie ihr rein!
Und das schmutzige Wort, das gleichzeitig in einem anderen Leben rein, also sauber, unbefleckt, bedeuten konnte, zerging salzig auf der Zunge.
Die Tatsache, dass die Mädchen nichts von uns hielten und sich nicht im Geringsten auf die gleiche Art und Weise über uns zu unterhalten schienen wie wir über sie, stachelte uns zu immer kühneren Flugversuchen an.
Der einzige Ort, an dem es keine festgelegten Sitzplätze für Buben und Mädchen gab, war die Kirche.

*

In der Kirche drehte sich alles darum, dass man nur so weit und nicht weiter gehen durfte in dem riesigen, fast immer menschenleeren Gebäude. Bis zum Altar und nicht weiter. Nein, bis zu den Stufen vor dem Altar. Und auch nicht in die Sakristei, nicht ohne Aufsicht.
Unsere Schritte hatten lange Echos: DochDochDochchch
Von Pater Johann hatten wir damals die Erstkommunion erhalten, ein seltsames Martyrium aus Basteleien und rituellen Kerzen, die monatelang meine Träume beschäftigten. Und alle Mädchen in Weiß. Gebete aufsagen. Der Ablauf der Messe, wie die Strophen eines Gedichts auswendig im Kopf. Das merkwürdige Wort Fürbitten. Die lange Reihe der Mädchen und Buben mit den Kerzen in der Hand. Der schwitzende Fotograf auf dem kleinen Gemeindeparkplatz.
Mir gefiel es, zur Messe zu gehen, weil ich da noch viele meiner alten Schulfreunde treffen konnte. Die Kinder im Gymnasium, das ich seit einem halben Jahr besuchte, waren mir alle noch fremd und würden das Kunststück wohl nicht mehr hinbekommen, meine Freunde zu werden.
An dem Tag, als ich den weißen Papiertaler, der Teile 15 des Erlösers enthielt und nach nichts schmeckte, in der Kommunion empfing, aber nicht schluckte, habe ich das erste Mal jemanden geschlagen. Michael.
– Dalleib Christi, sagte Pater Johann und tat dann das Ungeheuerliche, das er schon einige Male getan hatte, etwas, das mich elektrisierte und beinahe in Ohnmacht fallen ließ – er legte mir die kleine, weiße Hostie auf die Zunge. Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich ganz von selbst den Mund offen gehalten hatte, was mich noch mehr verwirrte und anstachelte. Dann fiel mir ein, dass nur geschehen war, was mir vorher schon von allen lang und breit erklärt worden war.
Die Hostie blieb am Gaumen kleben und wurde ein weißer und zäher Brei, wenn man nicht aufpasste. Wir allerdings passten auf.
Es war ganz einfach. Man musste nur vorher eine halbe Stunde mit offenem Mund herumrennen, bei Wind, mit offener Jacke, im Park oder vor der Kirche. Oder, wenn das nicht möglich war, pfeifend ein- und ausatmen, so als wäre man verschnupft. Mit ausgetrockneter Kehle wartete man die Messe ab, dann empfing man – welch eigenartiger Schauder packte mich jedes Mal aufs Neue bei diesem Wort – die Kommunion, die weiße Oblate. Sie klebte sofort an der Innenseite des Mundes fest, und man konnte sie gefahrlos hinaustragen und den Freunden zeigen, die mit ihren Eltern vor der Kirche herumstanden, auf dem Kiesweg, gleich neben einem unordentlichen Fahrradständer.
Über dem Altar, sehr weit oben, gab es ein rundes, weißes Fenster aus Milchglas, das ich immer anstarrte, wenn ich empfing. Es war genauso rund und weiß wie die Hostie in meinem Mund, und die Distanz zwischen 16 mir und dem hohen Fenster verringerte sich fast auf null, wenn sich die kleinere Version davon, die Hostie, an meinen Gaumen legte. Wie ein Seil, das zwischen zwei weit entfernten Punkten gespannt wird. Das Fenster war einer der wenigen Gegenstände, die eine unleugbar heilige Wirkung auf mich hatten, ähnlich wie der Anblick einer verfaulten Blume, der eigenen Haut unter einem starken Vergrößerungsglas oder der toten Fische auf dem Bauernmarkt mit ihren entsetzt starrenden Augen.
Am Kirchenparkplatz, allein mit ein paar Freunden, sperrte ich meinen Mund auf und zeigte ihnen die intakte Hostie.
– Gib …
– Lass mich!
Michael griff mir mit seinen nach Speichel riechenden Fingern ins Gesicht, auf meine Lippen. Ich wehrte ihn ab. Er taumelte wieder näher, dümmlich und verspielt. Ich rammte ihm meine Faust in den Bauch, dann schlug ich ihm, während er sich krümmte, ins Genick. Die Freunde wichen vor uns zurück.
Michaels Mutter hatte uns gesehen und eilte ihrem Sohn zu Hilfe. Sie spuckte ein paar Beschimpfungen in meine Richtung, dann zog sie ihn am Handgelenk davon. Er ließ sich führen wie ein Blinder, von der Erkenntnis, dass sein Körper Schmerz empfinden konnte, ganz benebelt.
Ich blieb zurück und begann erregt zu kauen.

[...]

© Auteursfoto Paul Schirnhofer/Suhrkamp Verlag

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